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Fromm und Lichterheilig: Rainer Maria Rilke zum Advent

  • Autorenbild: hds
    hds
  • vor 14 Minuten
  • 2 Min. Lesezeit
Ausstellungsaufbau Rainer Maria Rilke in Marbach / Neckar: Deutsches Literaturarchiv November 2025
Ausstellungsaufbau Rainer Maria Rilke in Marbach / Neckar: Deutsches Literaturarchiv November 2025

Am 4.Dezember 1875, also ziemlich genau vor 150 Jahren wurde der Dichter Rainer Maria Rilke geboren.  In unserer literarischen Lesung greifen wir ein Gedicht heraus, das zu den berühmtesten Weihnachtsgedichten in deutscher Sprache zählt: Rainer Maria Rilke hat es 1898 geschrieben.


Advent

 

Es treibt der Wind im Winterwalde

Die Flockenherde wie ein Hirt

Und manche Tanne ahnt wie balde

Sie fromm und lichterheilig wird.

Und lauscht hinaus: den weißen Wegen

Streckt sie die Zweige hin – bereit

Und wehrt dem Wind und wächst entgegen

Der einen Nacht der Herrlichkeit.

 

Rilke stellt die  vorweihnachtliche Welt aus der Perspektive eines Nadelbaums dar. Das Gedicht beschreibt, wie der Wind im Winterwald wie ein Hirte die Schneeflocken treibt, während eine Tanne ahnt, dass sie bald festlich geschmückt wird und auf etwas Größeres als nur äußeren Schmuck wartet. Das Gedicht handelt von der Erwartung des Advent als Zeit der inneren Einkehr und des Warten auf eine tiefere, metaphysische Transformation, die in der "Nacht der Herrlichkeit" ihren Höhepunkt findet.

Personifikation der Naturerscheinungen sorgen dafür, dass hier die Weihnachtssehnsucht ungebrochen bewahrt wird. Nicht nur die Tanne, sondern auch der Leser und die Leserin wird vor so viel Feierlichkeit „fromm und lichterheilig“. Natur und Subjekt sind vereint in einer Naherwartung: Hingebungsvoller und verzauberungswilliger ist in der deutschen Lyrik kaum je über „die eine Nacht der Herrlichkeit“ gedichtet worden wie in diesem 1898 entstandenen Gedicht. Es wächst alles auf Weihnachten zu.

Verpackt in das Naturphänomen des Wachsens umschreibt der Dichter unser angemessenes und sehnsuchtsvolles Vorbereiten.

Das Symbol des Baumes lässt sich  immer auch als ein Symbol des Menschen zu deuten. Und des Menschlichen.

Der Dichter lässt frei. Und wir dürfen der Phantasie, unserer Phantasie freien Lauf lassen. Wie eine simple Tanne, die ihrem festlichen Gepränge entgegenwächst, so sind auch wir in diesen Tagen des Advent geprägt von einem individuellen Entgegenwachsen. In Momenten der Gemeinschaft können wir uns mit unserem persönlichen Wachsen verbinden. Lieder, Musik, Texte aber auch die Aufgabe, die Tage der Vorweihnacht freundlich und angemessen gemeinsam zu gestalten. Mit menschlichem Maß. Mit Geduld.

Auf die adventliche Frage: Wie soll ich dich empfangen? Gibt es keine allgemeingültige Antwort.

Auch das ist von Rilke zu lernen. Wir dürfen den Antworten entgegenwachsen.


Man muss den Dingen

die eigene, stille

ungestörte Entwicklung lassen,

die tief von innen kommt,

und durch nichts gedrängt

oder beschleunigt werden kann;

alles ist austragen –

und dann gebären…

 

Reifen wie der Baum,

der seine Säfte nicht drängt

und getrost in den Stürmen des Frühlings steht,

ohne Angst,

dass dahinter kein Sommer

kommen könnte.

Er kommt doch!

 

Aber er kommt nur zu den Geduldigen,

die da sind,

als ob die Ewigkeit vor ihnen läge,

so sorglos, still und weit…

 

Man muss Geduld haben

Mit dem Ungelösten im Herzen,

und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben,

wie verschlossene Stuben,

und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache

geschrieben sind.

 

Es handelt sich darum, alles zu leben.

Wenn man die Fragen lebt,

lebt man vielleicht allmählich,

ohne es zu merken,

eines fremden Tages

in die Antworten hinein.


ree

 
 
 

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