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Armer König Mensch


Armer König Mensch. Diesen Titel hat der unbekannte Künstler seinem Werk gegeben. Entstanden ist das Bild in der Kunsttherapie im Maßregelvollzug des Zentrums für Psychiatrie Südwürttemberg/Weissenau. Wie kam dieses Bild in meinen Besitz? Im Jahr 2003 feierten wir in der Evangelischen Kirche Weissenau das 150-jährige Jubiläum evangelischer Präsenz im ehemaligen Kapitelsaal des Klosters Weissenau. Dieses Bild war Teil einer Ausstellung über die Arbeit der Kunsttherapie im ZfP. Mehr noch, ich erwählte es gar zum Logo der Ausstellung. Nach den Jubiläumsfeierlichkeiten überreichte mir der Kunsttherapeut das Bild, eingerahmt hinter Glas. Danach zierte es mein Arbeitszimmer. Merkwürdigerweise sprach es in diesem Eingebundensein überhaupt nicht mehr zu mir. Mit dem heutigen Umzug in ein neues Arbeitszimmer (das dritte in meiner Zeit als Seelsorger im ZfP) nahm ich es zum ersten Mal aus dem Rahmen heraus. Irgendetwas geschah durch diesen Prozess der Herauslösung. Siehe, es entfaltete wieder seine künstlerische Kraft. Es ist verrückt: der bändigende Rahmen hat wohl dem Kunstwerk die Luft genommen, die es zum Atmen und Wirken braucht. Es wurde eingepresst in ein Schema und nun darf es - wie entfesselt - ausbrechen aus Norm und Ordnung. Ich nahm kurzerhand das lose Blatt und klebte es mit gelben Klebebändern auf meine neue Tapete. Nicht perfekt, aber lebendig. Sprachgewaltig. Dies ist das Bild eines Schweigenden, das spricht. Ein Mensch, in Gedanken versunken. Ich vermute, er brütet über seine Zukunft. Oder über seine momentane Verfasstheit (der Künstler befindet sich im Maßregelvollzug!). Mich erinnert es an die Skulptur von Auguste Rodin "Der Denker". Auch Zitate kommen mir in den Sinn: "Denken heißt überschreiten" (Ernst Bloch) oder "Durch Denken zum wahren Menschentum" (Albert Schweitzer). Nichts ist perfekt an dieser sinnierenden Gestalt: der überdimensionale Kopf mit dem seltsamen Mund, die viel zu lang geratenen Arme, die ohne die allergeringste Andeutung einer Hand direkt in die vier (!) Finger übergeht, kein Körper, alles durchsichtig. Der Leib, lediglich angedeutet, die Füße gänzlich abgeschnitten. Ein Fragment. Sparsam auch in der Farbwahl. Ein rotes Strichmännchen, dem es an Hülle fehlt. Alles an der Gestalt scheint arm und gebrechlich. Und doch nicht zerbrochen. Insgesamt haftet dem Werk eine sehr spezielle Geschmeidigkeit an. Für mich strahlt die Figur eine Würde aus, und eine Entschlossenheit. Hier ist nichts verloren. Es geht weiter. Es gibt Hoffnung. Interessant ist, dass diese Figur mich erst dann wieder neu ansprach, als ich sie aus dem vermeintlich schützenden Wechselrahmen löste. So konnte das Ursprüngliche, Archaische in Erscheinung treten und wirksam werden. Genaugenommen sind es drei Titel, die der Künstler seinem Werk gab. Armer. König. Mensch. Da werden die Hierarchien ausgehebelt. Am Ende steht der Mensch. Arm. Aber auch König. Der denkende Mensch lotet seine Zukunft aus. Zwischen Armut und Königtum. Vermutlich wird er allein nicht schaffen, was er sich vorgenommen hat. Soange er denkt wird er die Lust an der Zukunft nicht verlieren. Was bleibt ihm? Er wird nicht in der Agonie verharren. Er wird aufstehen, voranschreiten. Und weiter denken. Und weiter hoffen.

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