Virtuelle Weihnachtspredigt
Erstmals seit 40 Jahren erlebe ich ein verkündigungsfreies Weihnachtsfest. Für einen Theologen eine besondere Herausforderung nach all den Jahren in der Gemeinde, im Krankenhaus. Ich habe mir diese Enthaltsamkeit auferlegt. Was das aus mir macht, kann ich noch nicht sagen. Es tut gut, zurückzutreten, das Gesamtwerk aus der Ferne zu betrachten, um neuen Gedanken, Beobachtungen und Gefühlen gerade in der Weihnachtszeit Raum zu geben. Es ist wie bei der Betrachtung eines Kunstwerkes. Um das Gesamte erfassen zu können, muss Abstand gewonnen werden. Die Chance des Ruhestandes ist, die Dinge aus anderer Perspektive zu erleben, erstmalig nicht im Modus des Produzierens, sondern im Modus des Empfangens, was der Weihnachtsgeschichte irgendwie ja auch entspricht. Das Adventslied „Wie soll ich dich empfangen“ bekommt eine neue Bedeutung.
So setze ich mich an den Schreibtisch und versuche, wenigstens eine virtuelle Weihnachtspredigt zu verfassen. Die modernen Kommunikationsmittel bringen es mit sich, dass für Verbreitung gesorgt werden kann. Darum veröffentliche ich meine „Predigt“ auf meiner Homepage. Bei durchschnittlich 10-15 Klicks meiner Blogbeiträge gebe ich mich nicht der Illusion hin, meine Worte würden viele Menschen erreichen, geschweige denn ansprechen oder berühren, aber irgendwie habe ich das Bedürfnis, ein paar Gedanken in Worte zu fassen. Die große Aufgabe: die Weihnachtsgeschichte in unterschiedlichen Kontexten erfahrbar werden zu lassen, damit sie für Menschen in ihren Kontexten hilfreich wird.
Studium: Gerne denke ich an die Zeit zurück, als wir die Weihnachtsgeschichte Lukas 2 erstmals aus dem Novum Testamentum Graece übersetzt haben. Altgriechisch-Kurs, Wintersemester 1976/77, Universität Tübingen, Zentralgebäude. Ein nüchterner Hörsaal mit einem sprühenden Lehrer. Ich hatte so viel Spaß an der Übersetzung, fühlte mich sprachlich ganz nah bei den Hirten, im Stall. Luther hat es in kraftvolle Sprache übersetzt, was wir im Urtext erschließen konnten: Und es begab sich aber … Großartig. Immer noch lese ich voller Bewunderung im Urtext.
Vikariat: Ich gründete und leitete eine Gruppe junger Erwachsener. Thema eines Abends: Exegese der Weihnachtsgeschichte. Ich wagte eine historisch-kritische Betrachtung. Für mich eine Selbstverständlichkeit: Jeder biblische Text verträgt die kritische Reflexion. Ja, er profiliert sich dadurch erst. Nicht aber für eine junge Frau, die mir nach dem Abend unter Tränen mitteilt: Sie haben mir meinen Glauben genommen. Mich hat das ziemlich erschüttert. Sie kam nie wieder in die Gruppe. Wie die Empfindungen auseinandergehen können: Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass eine kritisch-wissenschaftliche Untersuchung mir den Glauben nehmen könnte. Eher das Gegenteil: es hilft mir, meinen Glauben zu verstehen. Aber die Empfindungen differieren bei dieser so sensiblen Geschichte.
Gemeinde: Die Zeit der Krippenspiele. Hochsaison im Gemeindeleben. Eintauchen in die Figuren der Weihnacht. Inszenierung eines Geheimnisses. Konzerte mit besonderer Stimmung. Einmalige Lieder. Eine Anspannung, die sich gerade in der Weihnachtszeit steigert. Fröhlichkeit paart sich mit Konflikt und Launen. In der Gemeinde, in den Familien. Hohe Erwartungen, die selten erfüllt werden. Die ganze Ambivalenz der so vielfach beschworenen friedlichen Tage tauchen auf im Kosmos der Gemeinde.
Krankenhaus: Hier fallen mir die Stationsbesuche ein. Alle Jahre wieder ziehen Chöre, Posaunen, Flöten durch das Gelände und bringen das Weihnachtsevangelium auf die Stationen: in die Forensik, in die Depression, in die Alterspsychiatrie, zu den Kindern und Jugendlichen. Stets von Neuem herausfordernd. Mit ständigem Abbau floskelhafter Sprache. Es ging immer darum, die Botschaft interkulturell einzubetten in die Realität seelisch verletzter Menschen, ohne Pathos zu versprühen. Für die Kinder- und Jugendpsychiatrie ist die Weihnachtszeit traditionell hoch belastet. Wir haben versucht, in der Kirche mit einer kleinen Feier und Schulchor der Krankenhausschule zu einer freundlichen Stimmung beizutragen.
Ein Arzt hat das Weihnachtsgeschehen im Krankhaus einmal als „Infantilisierung“ bezeichnet. Wo Menschen klein gemacht werden, wo sie regredieren oder ihre Probleme weiterdelegieren, ist in der Tat etwas fehlgelaufen an der Verkündigung. Die Urbotschaft ist die des Friedens und des Wohlgefallens, das hat mit Infantilisierung nichts zu tun. Im Gegenteil: trotz Gefährdung initiiert die Botschaft eine Atmosphäre des Vertrauens, die sich hilfreich auf die Kräfte der Heilung auswirkt. Sie wirkt sie Kultur schaffend, im Kleinen wie im Großen.
Bei dieser kleinen Auswahl persönlicher Erfahrungen ist mir klar geworden, dass die Botschaft von der Menschwerdung Gottes mit den alten Worten aus Lukas 2 die große Konstante ist. Sie lebt davon und entfaltet sich daran, dass sie in unterschiedliche Kontexte sensibel eingebettet werden muss. Nicht verloren gehen darf dabei der Charakter der Feier eines Geheimnisses. Dies sollten wir stehen lassen. Das Geheimnis macht den Zauber der Weihnacht aus. Die alten Worte von der Menschwerdung Gottes haben auf die einzelnen Herzen, Seelen und Körper unterschiedliche Auswirkungen. Wir haben die Kernbotschaft mit reichlich Deko umlagert. Um sie gefälliger zu machen? Ich habe den Eindruck, wir müssten sie befreien, damit der innere Kern und damit auch ihre Kraft sich herauskristallisieren und unbeschwert leuchten kann.
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