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Schwäbische Zeitung Ravensburg 31.12.2020


Impuls zum Jahreswechsel Von Pfarrer Hans-Dieter Schäfer, evangelischer Krankenhauspfarrer am ZfP Südwürttemberg/Weißenau Einen guten Rosch In diesen Tagen „zwischen den Zeiten“ wünschen sich viele Menschen gegenseitig einen guten Rutsch. Ich vermute, dass die meisten, die anderen einen „guten Rutsch“ mitgeben, nicht ahnen, welche ursprüngliche Bedeutung dieser Wunsch zum Jahreswechsel eigentlich hat. Mit dem „guten Rutsch“ ist keine mehr oder weniger feuchtfröhliche, aber glimpflich ausgehende Rutschpartie auf vereistem Terrain gemeint. Der sprichwörtlich gute Rutsch kommt aus dem Jiddischen und meint „einen guten Anfang“. Das Wort „Rutsch“ hat seinen Ursprung im Wort „Rosch“. Rosch haShana ist in der hebräischen Sprache der „Kopf des Jahres“, also der Jahresbeginn. Der aus dem Hebräischen stammende Begriff wurde durch deutsche Worte überdeckt, ähnlich wie bei „Hals- und Beinbruch“. Diese Wortkonstruktion kommt aus dem jiddischen Segenswunsch „Hasloche un Broche“ (hebräisch: haslacha we bracha“) - das bedeutet Glück und Segen. Glück und Segen: Auch das sind Wünsche, die wir einander in diesen Tagen zusprechen. Passt ja auch irgendwie zusammen: guter Rutsch mit Hals- und Beinbruch. Was ich damit sagen will: Wenn wir den Dingen wirklich auf die Spur gehen, ändert sich oft ihre Bedeutung. Aus dem guten Rutsch wird ein guter Anfang, und Hals- und Beinbruch wird zu Glück und Segen. Ich möchte nicht gleich zum Start des neuen Jahres belehren. Aber mir ist wichtig, Dinge klarzustellen, bevor sie auf eine falsche Fährte führen und wir dann alles aus Unwissenheit einfach nachsprechen. Die Ökumenische Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen wählt sich für jedes Jahr ein Motto für ihre Kirchen aus, die sogenannte Jahreslosung. Sie lautet für 2021: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!“ (Lukas 6,36) Auch hier müssen wir genau hinschauen. Die Losung für das Jahr, die im Übrigen nichts mit einer Auslosung oder Verlosung zu tun hat, steht in der sogenannten Feldrede des Lukas. Wie in der bekannteren Bergpredigt, die uns Matthäus überliefert, sind auch bei Lukas verschiedene Seligpreisungen Jesu aufgezeichnet. In diesen Jesusworten finden sich Grundlagentexte für ein Leben in Würde, Empathie, Respekt und Verantwortung. Im Unterschied zu Matthäus finden sich bei Lukas auch Weherufe. Dadurch werden Verhaltensweisen wie Selbstliebe, Nächstenliebe, Feindesliebe und Solidarität eingefordert. Mangelnde Barmherzigkeit kann ziemlich verletzen. Der hebräische Begriff für Barmherzigkeit lässt sich mit Mutterschoß/Gebärmutter übersetzen. Dadurch wird deutlich, dass der Vater, von dem hier die Rede ist, mütterliche Züge trägt. Gott lässt sich nicht auf ein bestimmtes Geschlecht festlegen. Auch hier lohnt sich ein genauer Blick. Barmherzigkeit, wo kann sie im neuen Jahr Anwendung finden? Immer und überall. Eigentlich in jedem reflektierten Denken und Tun. In der täglichen Lebenspraxis gibt es genug Gelegenheit, Barmherzigkeit zu üben. Barmherzigkeit heißt nicht einfach: Schwamm drüber, Konflikte unter den Teppich kehren. Beim Virus können wir jedenfalls mit der reinen Barmherzigkeit nicht landen. Mit einer barmherzigen Grundhaltung wird verwerfliches Verhalten keineswegs gebilligt. Barmherzig sein heißt: genauer hinzuschauen, bevor zum Beispiel ein Urteil über andere gefällt wird, die nicht in mein Schema passen. Barmherzig sein heißt: sich und andere nicht in vorgefertigte Schubladen einkasteln. Barmherzig mit sich selbst sein. Barmherzigkeit prägt das gesellschaftliche Miteinander positiv, zum Beispiel im demokratischen Diskurs. Das zeigt sich auch in der Fähigkeit zum Kompromiss. Barmherzig sein heißt: mit langem Atem das Gespräch suchen, aber auch demokratische Entscheidungen treffen und mittragen. Auf Eckart von Hirschhausens Wunschzettel für 2021 steht: „Gesunde Erde, gesunde Tiere, gesunde Menschen.“ Auf die Jahreslosung angewandt heißt das für mich: Ich sorge für meinen Teil dafür, dass ich mir und anderen nicht wehtue, dass ich mein Verhältnis zur Mitwelt neu reflektiere, mir überlege, wo ich Nachholbedarf in meinem persönlichen Lebensstil habe und welche Schritte ich mir für das neue Jahr vornehmen will. Das heißt aber auch: Sorge tragen für gesunde Verhältnisse im globalen Kontext. Auch dazu kann Barmherzigkeit anleiten: über unser begrenztes Ich hinausdenken. Dass wir in einer Welt leben und nur solidarisch die Probleme der Welt lösen können, das hat die Corona-Krise noch einmal sehr deutlich gemacht. Selbstverständlich heißt das, dass wir die Impfstoffe gerecht verteilen. Barmherzigkeit und Egoismus schließen sich aus. Der Beginn der Impfungen birgt ein großes Hoffnungspotenzial, die Pandemie weltweit zu überwinden, auch wenn manche Coronaleugner immer noch eisern an irrationalen Verschwörungsmythen festhalten. Ich freue mich, wenn wir das neue Jahr zuversichtlich begrüßen können. Das Jahr 2021 beginnt nicht mit Böllerschüssen und Feuerwerk, sondern in Ravensburg mit zehnminütigem Glockenklang. Ich wünsche Ihnen allen einen guten Start ins neue Jahr mit Glück und Segen.

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