Wurmlinger Kapelle - Weinberge am Südhang
Folgenden Text habe ich einer Einladung zu einer Tagung in Berlin entnommen:
"Wer in eine Kirche geht, dem wird visuell weitaus mehr Leid als Freude ins Auge springen. Jesus am Kreuz, die Pietà – die trauernde Maria mit dem Leichnam ihres Sohnes in den Armen –, die Darstellung von Märtyrern, Visionen von Höllenqualen: Kirchliche Kunst lebt von einer Bildsprache, in deren Zentrum die leidende Kreatur steht."
Als ich neulich den Kreuzweg auf die Wurmlinger Kapelle meditativ abgeschritten bin, hat mich dieser Text und die Aussage dahinter beschäftigt. Es ist wahr: dass in unseren Kirchen ein Übermaß an Darstellungen des Leides Raum gegeben wird. Deutlich seltener finden wir in der kirchlichen Ikonographie Darstellungen von Freude und Positivem, ganz zu schweigen von Genüsslichem. Auch der Kreuzweg, der vor allem in der katholischen Frömmigkeit zu Hause ist, konfrontiert uns von Station zu Station mit dem Leiden. "Mein" Kreuzweg, der mir schon von Kindesbeinen an vertraut ist, der Kreuzweg zur Wurmlinger Kapelle führt in steilem Anstieg nach oben. Hoch thront sie, die Kapelle und "schauet still ins Tal hinab", wie Ludwig Uhland dichtet.
Als Kind habe ich diese Zeilen auswendig gelernt. Meine Oma hat sie mir stetig vorgesungen. Wir wohnten schließlich an einem Ort, an dem wir täglich die Kapelle vor Augen hatten. Nur einmal im Jahr, am Karfeitag, ging es auf den Berg. Aber den Jesus im Kerker, den durften wir als Kinder nicht sehen. Der wurde zensiert - zu schauerlich wurde er für uns Kinder empfunden.
Für viele ist es befremdlich, dass das Zentralsymbol des Christlichen das Kreuz ist. Aber man kann es auch so sehen: das Kreuz, der Schmerz, die Hilflosigkeit spiegelt die Situation der Welt wieder, denn (so heißt es in der Fortsetzung des Ausschreibetextes):
"auch in säkularen Kontexten begegnet uns die Darstellung von Leid allenthalben. In den Fernsehnachrichten sehen wir Bilder von Menschen in Notsituationen. Ganze Ausstellungen widmen sich der Ästhetik der Kriegsfotografie."
Wenn ich so an den 14 Skulpturen vorbeigehe, dann denke ich: die leidende Kreatur findet einen Widerhall in diesen Darstellungen, ihre Stimme, ihre Schreie gehen nicht ins Leere: in diesen Bildern des leidenden Christus spiegelt sich die Menschheitsgeschichte. Und ich als Betrachtender: Ich muss kein Leiden proaktiv suchen. Es stellt sich von selbst ein.
Darum ist das kein Genussweg, auf dem ich voranschreite, sondern ein Kreuzweg, darum hängen in den Kirchen in der Regel keine Lustbilder, sondern Bilder des Leidens, weil wir nur dadurch in unseren täglichen Passionen verstanden werden. Und die gibt es in Hülle und Fülle. Wir müssen hier nichts beschönigen oder gar auf Harmonie bürsten. Wir müssen auch gar nichts überhöhen. Das Leid geht an gegen das kollektive Verdrängen, indem es einen Raum schafft für all das, was Menschen Menschen antun, was Menschen der Mitkreatur antut, was Menschen der Erde antun: quälen, ausbeuten, zu Grunde richten. Rücksichtslosigkeiten an allen Ecken und Enden.
In dieses Gemengelage von persönlich empfundenem oder partizipiertem Leid gesellen sich beispielhaft Zeichen von Nähe und Zuwendung: Jesus im Schoß der Mutter, die Pietà, die Frauen am Kreuz, der kreuztragende Simon. Das hilft zu einem bewahrenden Umgang mit allem Anvertrauten.
Oben angekommen, auf dem Plateau ein alter Friedhof (der Kommunalfriedhof wurde in den letzten Jahre nach unten verlegt), eine grandiose Aussicht, eine intakte Landschaft mit Schafherden wie besungen, seltenen Pflanzen auf der kargen Nordseite. Und auf der Südseite: Wein, der des Menschen Herz erfreut. Also: Im Umfeld des Kapellenberges gibt es durchaus etwas für Herz und Gemüt. Die Erbauer der Kapelle führten den Kreuzweg bewusst nicht noch tiefer nach unten, in noch mehr Leid hinein, sondern sie führten ihn in lichte Höhen. Die verborgene Botschaft jedes Kreuzes ist die Hoffnung auf Ende des Leidens. Und jeder Gottesdienst, den wir feiern, hat in seinem innersten Kern die Hoffnung der Auferstehung zum Thema. Und ein stetiger Aufruf, sich mit dem Leiden nicht zufrieden zu geben, sondern proaktiv etwas dagegen zu unternehmen.
Blick von der Wurmlinger Kapelle auf der kargen Nordseite in Richtung Unterjesingen und Schönbuch: Karge Weidelandschaft im Norden und genüssliche Weinlandschaft im Süden.
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