Besinnung zum Karfreitag 10.4.2020
Pfr. Dr. Hans-Dieter Schäfer
Evangelische Kirchengemeinde Ravensburg-Eschach Evangelisches Krankenhauspfarramt ZfP Südwürttemberg/Weissenau
Dornenkrone (Gedenkstätte Meersburg-Lerchenberg)
Aus Psalm 22
Ein Psalm Davids, vorzusingen, nach der Weise »die Hirschkuh der Morgenröte«.
Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne.
Mein Gott, des Tages rufe ich, doch antwortest du nicht, und des Nachts, doch finde ich keine Ruhe.
Aber du bist heilig, der du thronst über den Lobgesängen Israels.
Unsere Väter hofften auf dich; und da sie hofften, halfst du ihnen heraus.
Zu dir schrien sie und wurden errettet, sie hofften auf dich und wurden nicht zuschanden.
Ein Gebet
Ich treffe dich auf den Balkonen, von denen in italienischen Straßen deine Zuversicht gesungen wird.
Ich treffe dich in den Zetteln an den Türen, an denen Nachbarn durch Hilfe für andere deine Liebe üben.
Ich treffe dich in der Fürsorge, die meine Liebsten auf allen Wegen um mich kümmern lässt.
Ich treffe dich im Gebet, selbst in den stillen, kurzen, und du trägst meine Ängste mit.
Auch in schwierigsten Zeiten, auch in der Unsicherheit, in der Distanz, im Stillstand bist du da.
In unzähligen Malen „Fürchte dich nicht! “ hast du uns das mehr als versprochen.
Gott, auch wenn die Türen deiner Häuser geschlossen und ihre Bänke leer sind,
feiern wir dich im Gottesdienst -immer dort, wo ich dich treffe.
(Veronika Rieger, angehende Pfarrerin und freischaffende Poetin)
Liebe Gemeinde,
Schmerz prägt diese Passionszeit. Soviel Liebgewonnenes, Selbstverständliches ist plötzlich nicht mehr möglich. Vermutlich sind es nicht die ausgefallenen Reisen, die Grillfeste, die kulturellen und sportlichen Veranstaltungen, die uns traurig stimmen. Die können nachgeholt werden. Da ist vor allem der Schmerz, sich nicht in vollem Umfang begegnen zu können, der Schmerz einer sozialen Distanz, die sich auf alle unsere Lebensbereiche erstreckt. Aber noch viel schmerzhafter und wirklich existenziell ist der Schmerz in unseren Krankenhäusern und auf den Intensiv- und Isolierstationen. Obwohl die Pflegekräfte in den Krankenhäusern rund um die Uhr arbeiten und um jedes Leben kämpfen, können sie nicht jedes Leben retten. Hilflos schauen wir zu und hoffen, dass der Kelch des unbarmherzigen Virus an uns und allen unseren Lieben vorüber geht. Dazu kommt der Schmerz über die Verstorbenen, das lähmende Gefühl der Angehörigen, die letzten Stunden nicht miteinander teilen zu können, die Trauer, die ins Leere läuft. Selbst letztes Abschiednehmen ist nicht möglich, weil die neue Ansteckungsgefahr auch vor den Friedhöfen nicht halt macht.
Ein unsichtbares Virus legt unseren Globus lahm. Täglich drücken neue Meldungen und Bilder die Stimmung. Wie auf Prophetenworte, die das Ende des Unheils ankündigen warten wir auf gute Nachrichten der Virologinnen und Virologen. Wir ersehnen neue Erfolge der Wissenschaft und bitten um Erkenntnis für alle, die an der Entwicklung eines neuen Impfstoffes arbeiten.
Und wir Christ*innen? Wir begehen in diesem Jahr die Passionszeit und die Osterfeste unter noch nie dagewesenen Umständen. Dass Gottesdienste aufgrund staatlicher Verordnung nicht abgehalten werden dürfen, das hat es noch nie gegeben. Im christlichen Verständnis sind die Tage neben Weihnachten die wichtigsten im Glaubensprozess. In Passion und Auferstehung spüren wir Elend und Glanz Gottes. Gleichzeitig fühlen wir uns dem globalen menschlichen Elend so nah wie nie. Die Flüchtlingskrise, ertrinkende Menschen auf dem Mittelmeer, Tsunami und Hungerkatastrophen haben uns nicht so zusammengebracht wie dieses Virus mit dem harmlosen Namen Corona. Wir erfahren die Welt als eine vernetzte Schicksalsgemeinschaft, vernetzt im Risiko von Ansteckung und bei der Suche nach Wegen aus der Gefahr. Wir erleben Kräfte der Solidarität, transnationale Hilfsbereitschaft, Glanzpunkte der Vernetzung. Bleibt zu hoffen, dass dies alle so verstehen und sich gegenseitig beistehen. Es ist als spiegele sich im Kreuz Christi die Krankheit der Menschen. Was in Golgotha geschah kann ich nur als grenzenlose Solidarität mit den Leidenden deuten: Ein Sterbender, der am Kreuz um Atem ringt, wird zur Chiffre für den um sein Leben ringenden Menschen unter der Atemmaske. So kommt Christus mir ganz nahe. Als solidarischer und empathischer Bruder. Auch wenn Karfreitag ohne Ostern wenig Sinn macht, sollten wir aber nicht zu schnell auf die erlösende Befreiung schauen, sondern erst einmal den Schmerz miteinander aushalten. Helfen kann uns vielleicht der Text für Karfreitag 2020. Wir finden ihn bei Paulus um 2. Buch an die Korinther, Kapitel 5, die Verse 19-21:
Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit ihm selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung. So sind wir nun Botschafter an Christi statt, denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott! Denn er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, auf dass wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt.
Obwohl das Kreuz in diesem Text nicht explizit auftaucht: wir Christ*innen deuten das Passionsgeschehen Jesu als ein großes Versöhnungsgeschehen und Versöhnungsauftrag. Obwohl das Kreuz immer noch in unterschiedlicher Form als starkes Symbol und Wegzeichen auch im öffentlichen Raum präsent ist, können wir nicht übersehen, dass sich da eine riesige Kluft zwischen gesellschaftlicher Wahrnehmung und christlichem Verständnis auftut. Unsere Gesellschaft hat sich vom Karfreitag entfremdet. Es ist uns Kirchen nicht gelungen, verständlich zu erklären, warum das Leiden und Sterben Jesu als wunder Punkt und Kraftzentrum für unser Leben so bedeutsam ist. Im Text des Apostels an die Korinther wird das Passionsgeschehen als Ruf zur Versöhnung verstanden, als Überwindung von Entfremdung, als große Brücke von Gott zu Mensch und von Mensch zu Gott.
Das Kreuz durchkreuzt unsere Denk- und Sehgewohnheiten, wenn es nicht immer gleich von Ostern her seiner Anstößigkeit entraubt wird. Das Kreuz ist nicht harmonisierbar, nicht integrierbar in unsere Interessen. Ein schwacher Gott ist eine Provokation für menschliches Denken und Hoffen. Wir denken gewohnheitsmäßig, dass Gott allmächtig ist. Und wir erwarten und hoffen, Gott solle mal regeln, helfen, machen, verhindern. Er solle Corona beenden. Sofort. Die meisten Gebete sind Bitten an Gott, unsere Probleme zu regeln. Das Kreuz Jesu lenkt unseren Blick auf einen Gott, der sich als Verwundbarer zeigt und selbst bedürftig ist. Indem Gott den Weg der Verletzlichkeit und Verwundbarkeit geht, wird die Kluft der Entfremdung überbrückt. Paulus nennt dieses Geschehen Versöhnung. Nur der leidende Gott kann helfen, sagt Dietrich Bonhoeffer, dessen gewaltsamer Tod sich in diesen Tagen zum 75. Mal jährt.
Dass in diesem leidenden, verletzlichen Gott grenzenlose Solidarität deutlich wird, das spürten die Menschen früher noch intuitiv. Künstler haben den gekreuzigten Jesus mit den Attributen von Krankheit versehen. Wir haben ein sehr eindrückliches Beispiel ganz in unserer Nähe, das sogenannte Pestkreuz aus Baindt. Im Mittelalter suchte der schwarze Tod wie riesige Wellen die Dörfer und Städte heim. Diese schreckliche Krankheit, denen sich die Menschen machtlos gegenübergestellt sahen, kostete viele Menschenleben. Es gab damals noch keine elektronische Kommunikation, die vor diesen Gefahren für Leib und Leben warnte. Kein Kraut war gegen das Dahinraffen gewachsen. Das Kreuz eines unbekannten Künstlers von ca. 1350 zeigt einen sehr elenden Christus, der auf seinem Körper die Wunden der Pest trägt, in denen die geplagten Menschen sich erkannten. Dieser Christus trägt unsere Krankheit und unser Elend, so die Botschaft. Das Signal: Du bist nicht allein mit deinem Leiden. Dieser mit-leidende Gott ist da. Indem er unsere Krankheit trägt, wirkt er als Wunde wie ein Kraftzentrum einer neuen Welt voll Hoffnung und Überwindung von Schmerz. Zum Zeichen dieser Hoffnung schießen aus dem verwundeten Gesicht Jesu goldene Strahlen.
Pestkreuz aus Baindt (um 1350)
Der Künstler Matthias Grünewald hat den gekreuzigten Christus dargestellt wie kein anderer vor und nach ihm. Kein Blick kann diesem gekrümmten, schmerzgeplagten Christus standhalten. Er trägt die Symptome des Antoniusfeuers, einer Krankheit, die durch Mutterkorn, einen Getreidepilz, verursacht wird und die sich im Mittelalter epidemisch ausgebreitet hat. Unzählig viele Menschen sind dieser pestartigen, schmerzhaften Krankheit zum Opfer gefallen. Mönche des Ordens der Antoniter haben es sich zur Aufgabe gemacht, die am Antoniusfeuer leidenden Menschen aufzunehmen und zu pflegen. Ursprünglich stand dieser Altarkomplex im elsässischen Isenheim, einer Niederlassung der Antoniter. Heute finden wir ihn in Colmar. Die Betrachtung des Altars sollte den Kranken vor Augen führen, dass Christus selbst ihr Leiden auf seinem Körper trägt und so ganz einer der ihren ist. Aus der Betrachtung des befallenen Körpers Jesu sollten einen solidarischen Christus erfahren, der nicht über dem Leiden steht, sondern das Leiden - ihr Leiden - am eigenen Körper trägt und erträgt und damit teilt.
Isenheimer Altar (Matthias Grünewald)
Solidarität und Empathie sind besonders gefragt, wenn es um die Menschen geht, denen die Corona-Epidemie besonders zusetzt, den Risikogruppen, den Alten und Schwachen. Solidarität und Empathie gilt auch den Mitarbeitenden in den Krankenhäusern und Pflegeheimen, den Verantwortlichen in den Krisenstäben, in der Regierung und nicht zuletzt den Forscherteams, die fieberhaft an einem Impfstoff gegen das Virus arbeiten.
Auch Christ*innen haben Angst. Glaube ist kein direkter Impfschutz. Aber mit dem Wort der Versöhnung und seiner tiefgreifenden Bedeutung stärkt der Glaube langfristig die Widerstandskräfte. Mir ist in diesen Corona-Zeiten besonders wichtig, an das anzuknüpfen, was uns als Christ*innen hilft, Herausforderungen zu bewältigen. Mit dem Wort der Versöhnung auf den Lippen und der Haltung der Versöhnung im Herzen können wir Brücken bauen. Das ist tief als innere Haltung verankert. Alles Angelernte, alle Lippenbekenntnisse, auch scheinbar abgesicherte Glaubenssätze wirken nicht überzeugend, wenn sie nicht durch tiefe Erfahrung fundiert sind. Was mir einmal in einer Krise als geholfen hat, daran kann ich auch unter anderen Herausforderungen andocken. Jesu Leben für die Menschen, seine annehmende Grundhaltung, seine heilende Zuwendung zu den an Leib und Seele Erkrankten, seine liebende Nähe zu den Ausgegrenzten, sein undogmatisches Handeln in aporetischen Situationen und über allem stehend seine Bereitschaft zur Versöhnung: all das sind Bausteine einer Christusgesinnung, denen gerade in diesen schwierigen Zeiten eine große Entfaltungskraft zukommt.
Niemand weiß, wie wir aus der Krise hervorgehen werden. Doch meine feste Überzeugung ist: wir werden verletzt, aber gestärkt aus der Krise hervorgehen. Als Kirche, als Gesellschaft, als Einzelne/r. Ich bete dafür, dass jeder und jede einen eigenen guten Weg durch die Krise finden und dass sich in unserer Gesellschaft eine neue Solidarität entwickelt wird. Ich hoffe, dass wir uns bereits jetzt in den Zeiten des Abstandhaltens in eine neue Wertschätzung einüben können. Wir werden den Wert der Begegnung, die uns in ihren eingeübten Formen jetzt versagt bleibt, neu erkennen. Verändern wird sich unsere Gesellschaft allemal. Was wir lange als selbstverständlich betrachtet haben, werden wir neu bewerten müssen, z.B. unseren raumgreifenden Lebensstil auf Kosten anderer, unser ständiges Unterwegssein. Wir können nicht dauerhaft und ohne Schaden unsere persönlichen Grenzen überschreiten. Manches werden wir herunterschrauben müssen und andere Prioritäten sind angesagt. Auch was uns die Pflegeberufe und die medizinische Versorgung wert sind wird nach der Krise neu zu bewerten sein. Von manchem werden wir uns vielleicht sogar freiwillig und sehr gerne trennen wollen, weil es für das Leben nach dem Virus nicht mehr zielführend ist. Meine Hoffnung ist, dass wir mitten durch die Corona-Passion zu einer neuen, bewussteren Christusnähe finden werden.
Menschen gehen zu Gott in ihrer Not, flehen um Hilfe, bitten um Glück und Brot um Errettung aus Krankheit, Schuld und Tod. So tun sie alle, alle, Christen und Heiden. Menschen gehen zu Gott in Seiner Not, finden ihn arm, geschmäht, ohne Obdach und Brot, sehen ihn verschlungen von Sünde, Schwachheit und Tod. Christen stehen bei Gott in Seinen Leiden. Gott geht zu allen Menschen in ihrer Not, sättigt den Leib und die Seele mit Seinem Brot, stirbt für Christen und Heiden den Kreuzestod, und vergibt ihnen beiden.
(Dietrich Bonhoeffer)
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