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Erinnerungsarbeit




Wer die Wohnung seiner Eltern ausräumt, stößt auf allerhand, was sich im Lauf der Jahre angesammelt hat. In fast jedem Gegenstand taucht eine Erinnerung auf. Und die Frage stellt sich: Was will ich behalten, was gebe ich auf den „Schuttabladeplatz der Zeit“ (Titel eines Chansons des von mir sehr geschätzten Liedermachers Reinhard Mey), sprich in die Abfallentsorgung. Unsere Mutter hat es uns diesbezüglich leicht gemacht. Es sei ihr egal, was wir mit ihrer Hinterlassenschaft einmal machen werden, wenn sie nicht da sein wird, gab sie uns vor ihrem Tod mit. Nachlass entsorgen ist Erinnerungsarbeit, ist Trauerbewältigung, eine anstrengende aber unerlässliche Form der Konfrontation mit der eigenen Geschichte. Diese Aufgabe ist wichtig und notwendig, weil sie konstitutiv zu unserem Menschsein gehört. Die Familie, in der ich aufgewachsen, ist tief in mein Gedächtnis eingegraben: Orte und Wege, die ich gegangen bin, im Kinderwagen geschoben, an der Hand der Mutter. Die Menschen, die mich umgeben und geprägt haben, problematische und beglückende Momente, ein Panoptikum verschiedener Stimmungen. Und immer wieder: Bilder, in denen sich Emotionen verdichten. Eine wahre Bilderflut in den Alben, in den Kisten. Krimskrams, der nichts bedeutet und Objekte, die berühren, wie z.B. die Socken, die unsere Mutter gestrickt hat. Ich fand in einer Schublade ein Depot von diesen Strickwerken. Dieser Fund hat mich zu Tränen gerührt, denn immer zu Weihnachten bekamen wir Socken. Weiche Geschenke, dazu einen Geldschein beigelegt. Bis zuletzt den von Arthrose geplagten Fingern mühevoll entrungen. Und nun in dieser Schublade noch eine letzte Sammlung … prophylaktisch hergestellt für Zeiten, in denen es definitiv nicht mehr geht.




Unter den Erinnerungsstücken fand ich auch dieses Wintermäntelchen aus Wolle wieder. Es müsste um 1960 herum genäht worden sein. Unzählige Male habe ich es getragen. Meine Mutter war von Beruf Damenschneiderin. Fast nichts an Oberkleidung für uns Kinder wurde im Kleiderfachgeschäft gekauft. Vielleicht mal eine Lederhose mit Hirschmotiv. Immer war Sparen angesagt und das Knowhow war ja auch vorhanden. Also wurde selbst genäht, gestrickt. Skurrile Badehosen aus Wolle, die sich im Wasser vollsaugten. Pullöverchen mit Zopfmuster, Hosen und dieses Woll-Wintermäntelchen. Unsere Mutter hatte sich ein ganzes Stübchen im Haus, eingerichtet, und in meiner Erinnerung quollen dort die Stoffe in allen Variationen über und über. Dort befand sich auch das Depot mit Nähartikel. Wie sehr freuten sich die geflückteten Ukrainerinnen über die letzte Nähmaschine unserer Mutter, samt Spulen, Reißverschlüssen und anderen Accessoires für Handarbeiten. Symbolisch für die Erinnerungsarbeit steht dieses Wintermäntelchen. Es hat sich über 60 Jahren so gut erhalten, dass berechtigte Hoffnung besteht, es als Erbstück weiterreichen zu können. Es mag wie pathetische Nostalgie anmuten, aber in diesem Wintermäntelchen aus Wolle ist für mich auch ein Symbol einer ganzen Kindheit, die nicht immer einfach war, aber auf die ich dankbar zurückblicken kann.


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