Der „Gastl“, meine Tübinger Buchhandlung, hat dicht gemacht. Leider war sie dem Konkurrenzdruck im Handel nicht mehr gewachsen. Beim Gastl konnte man nach Herzenslust stöbern. Stunden habe ich in diesem Altstadt-Juwel verbracht. Und niemand hat mich gestört. Meine halbe theologische Bibliothek besteht aus Gastl-Büchern. Andere Bücher konnte ich dort anlesen, die ich mir nie gekauft hätte. Schon als Gymnasiast stand ich ehrfürchtig vor den beiden Minischaufenstern am Tübinger Holzmarkt, nahe der Stiftskirche. Im einen war die „Theologie“ versammelt, im anderen die „Philosophie“. Immer aktualisiert. Und drinnen roch es nach Büchern, wie im Antiquariat. Wenig Raum gab es für die Buchschätze, auf zwei Etagen verteilt. Und Frau Gastl, die Chefin, eine ältere Dame mit hochgestecktem grauem Haar: Treppe hoch – Treppe runter. Großartig, dieses Fluidum von Geist. Ich weiß nicht, ob mir ohne den Gastl überhaupt die Lust am Theologiestudium bereitet worden wäre. Das erste Buch, das ich mir beim Gastl kaufte – noch vor meinem Studium: Albert Schweitzer. Sein Leben und sein Weg. Herabgesetzt, aber immer noch sündhaft teuer für den Schüler. Ich konnte meinen Vater überzeugen, mir das Geld zu geben. Es sollten noch ungezählte Fachliteratur werden. Aber mit Albert Schweitzer wurde programmatisch zum Start in Studium ein Zeichen gesetzt. Zum Inventar gehörte der uralte speckige Ledersessel, in dem man versank. Ein gutes Buch in der Hand, was will man mehr? In diesem saßen Ernst Bloch mit charakteristischer Pfeife, Walter Jens, Jürgen Moltmann, Eberhard Jüngel, Hans Küng, und weitere Tübinger Geistesgrößen. Es durfte damals noch geraucht werden. Irgendwann - ich war schon längst in Amt und Würden - habe ich erfahren, dass Gastl umziehen musste. Ans Schimpfeck, nicht weit weg vom Ursprungsort am Holzmarkt. Der Geistestempel musste einer Boutique weichen. Der neue Ort war okay, aber der Charme verblasste, auch wenn sich der Sessel in der theologischen Abteilung am neuen Ort zu meiner Freude wiederfand. Kein Besuch in meiner Heimatstadt, den ich nicht mit dem Gastl verband. Gastl, mein Tübinger Lieblingslokal Kirchererbse (Kurdische Speisen) und die Bibliothek im Theologicum mit den Spezialzeitschriften sind gesetzt. Nächste Etappe der Geschichte um die entspannteste Buchhandlung in Tübingen: es droht die Insolvenz. Nach einem Aufruf fanden sich kreative Leute, die eine Genossenschaft bildeten, um den Gastl zu retten. Ein letzter Umzug erfolgte in den benachbarten Laden. Vielleicht ein Jahr existierte die Genossenschaft noch, aber dann kam die Hiobsbotschaft: der Gastl schließt, die Bücher und Regale werden verramscht. Das letzte Buch vom Gastl, das ich im Ausverkauf (40% günstiger) erwarb, trägt den Titel: Lange Liebe. Vom Glück des Zusammenbleibens. Es berichtet von Paaren, die miteinander das Leben glücklich teilen. Der Gastl und ich waren auch so ein Paar. Er war für mich ein Symbol des Geistes. Bei meinem Stöbern hätte ich immer etwas entdeckt, was mich anregt, weiterführt, ganz abgesehen von praktischen Materialien für Predigt, Seelsorge und Unterricht, die der Gastl in Hülle und Fülle bereitlegte. Doch im Laufe meines Lebens habe ich mir eine gewisse Buchkaufenthaltsamkeit auferlegt. Heute, in meiner Trauer um den Verlust eines Fixpunktes in meinem Leben, werde ich mich nicht enthalten können, sondern frohlocken auf die urigste Buchhandlung, die ich kenne, bzw. kannte und die jetzt leider ihre Pforten schließt.
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