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Die Seele Europas




Mitten im umtriebigen Gewusel der Europäischen Hauptstadt – eine Oase der Stille. Zwischen den Hochhäusern der Institutionen - eine Insel im Stil der Neorenaissance. Errichtet wurde das sakrale Gebäude auf dem Grund einer Kirche, deren Ursprünge bis ins 15. Jahrhundert zurückdatiert werden können. Nach der Umstrukturierung des Viertels wurde die Kirche 1907 abgerissen und ein äußerlich identischer Nachbau errichtet. Seit 2001 firmiert die „Chapelle de la Réssurection“ (Kapelle der Auferstehung) unter dem Namen „Kapelle für Europa“.  Auch wenn sie äußerlich wie ein aus der Zeit gefallenes Relikt aus der Vergangenheit anmutet, so bewahrt sie bereits im Eingangsbereich eine wohltuende Atmosphäre mit christlich-ökumenischer Symbolik. Das zeigt sich auch im Kirchenraum, den man über eine Treppe im ersten Stock. Mit warmen, hellen Farben, gebrochen von modernen Glasfenstern, in angenehmes Licht getaucht, verbreitet der Backsteinbau eine Großzügigkeit und ökumenische Weite. Am heutigen Mittwoch lädt die Kapelle zum Ökumenischen Gebet aus Anlass der Europawahlen ein. Der diensthabende Priester und ein Kollege der selbstständigen lutherischen Kirche leiten weißgewandet das Gebet. Versammelt haben sich etwa 60 Gläubige aller Konfessionen. Der ökumenische Chor hebt mit der ersten Musik an. Der Ökumenische Posaunenchor begleitet die Lieder. „Now Thank We All Our God“ tönt es vielsprachig. Frei entfaltet sich die Predigt über Philipper 4,6-9, wie alles in englischer Sprache gehalten. Ein „Musical Interlude“ stimmen die Instrumente des „German Ecumenical Brass Choir“ an: „Ich singe dir mit Herz und Mund“.


Emotionaler Höhepunkt: 28 bunte Blumen für Europa und die Welt


Emotionaler Höhepunkt ist die Zeichenhandlung, bei dem 28 bunte Blumen nacheinander aus einer im Eingangsbereich positionierte Vase einzeln in den Altarbereich transferiert wurden, jeweils unter Einblendung der 27 Mitgliedstaaten auf einer Leinwand: Wie pray for Germany, Poland, France, Belgium … Die 28. Blume ist für das UK, die Beitrittskandidaten und zusammenfassend die anderen Länder bestimmt. Vielsprachig nimmt das Gebet seinen weiteren Verlauf, mit dem Vaterunser und dem Segen. Das Treffen im Erdgeschoss mit Getränken und Snacks dient der Kommunikation. Man tauscht sich über die Predigt aus, über das Leben in Brüssel und über die Befürchtung eines Rechtsrucks bei den Wahlen. „Habt keine Angst“, so Paulus an die Philipper. Vielleicht sollte man sich dieses Votum gerade vor den Wahlen mit den Befürchtungen besonders zu Herzen nehmen. Aber: Wenn man wirklich Angst hat, nützt ein solcher Appell nicht viel. Viel Neues habe ich in der Predigt nicht gehört: Beschwörung des Zusammenhaltes, Bemühung um Einigung und Nachhaltigkeit. Das muss man denen, die beim Gebet dabei sind, eigentlich nicht sagen. Die wissen es, sie arbeiten dafür. Das sind alles überzeugte Europäerinnen und Europäer. Und trotzdem muss es gesagt werden. Damit es verfestigt wird, damit es vertieft wird. Denn es gibt Kräfte, die dieses Europa des Friedens und des Fortschritts zerstören wollen. Sie wollen nur aus diesem Grund ins Europaparlament gewählt werden. Und wir bezahlen sie mit unseren Steuergeldern. Ich erinnere mich an die Trias des Altmeisters Sigmund Freud, der im Blick auf die Therapie von seelischen Krankheiten schrieb: Erinnern – Wiederholen – Durcharbeiten. Das Gebet ist ein ständiges Erinnern, ein Wiederholen und ein Durcharbeiten, und dadurch ein wichtiger Baustein für die Seele Europas, an die ich immer noch fest glaube. Therapien sind, wie wir wissen, oft ewig lange Prozesse, nicht immer von Erfolg gekrönt. Die Seele Europas mag in gewisser Hinsicht brüchig geworden sein. Aber ich werde nicht müde, daran zu glauben, dass es sich lohnt, an ihr zu arbeiten. Und das Gebet als seelischer Vorgang hat eine große Verheißung. Ich verlasse die Oase der Ruhe und begebe mich wieder in die Geschäftigkeit im Europaviertel. Es ist allerdings merklich ruhiger geworden an jenem lauen Abend Ende Mai 2024. Die meisten, hat mir ein Journalist gesagt, befinden sich im Wahlkampf in ihren Heimatländern. An der Metrostation fällt mein Blick noch intensiver auf Menschen, die augenscheinlich von Sorgen gezeichnet sind. „Habt keine Angst“. Gar nicht so einfach umzusetzen, was Paulus sagt, denke ich und steige in die Bahn ein.

 

 


Europa - bunt und vielfältig

 

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