1968 - Was für ein Jahr! Und dieses alte Geschirrhandtuch zeugt davon. Tausende mal benutzten wir es in unserem Haushalt zum Abtrocknen. Blessuren hat es von sich getragen. Das Stück Stoff ist aus der Zeit gefallen. Schön längst hätte ich es zum Putzlumpen verarbeiten können. Aber ich habe ihm die Treue gehalten, weil ich es mag, dieses alte Geschirrhandtuch, auch nach unendlich vielen Spülgängen, die es fast zerschlissen hat. Ich mag es eigentlich immer mehr. Ich mag es wegen der Zahl: 1968. Ich mag es aber auch wegen seiner Gebrauchsspuren. Und ich mag es, weil es mich an eine wichtige Zeit erinnert. Damals war ich 12. Ging in die sechste Klasse ins Kepler-Gymnasium Tübingen. Meinem Grundschullehrer habe ich das zu verdanken. Er meinte, ich hätte das Zeug fürs Gymnasium. Nun arbeitete mich mühsam durch die Anforderungen. Eine neue Welt erschloss sich mir. Mein erster Schwarm war eindeutig meine Englischlehrerin: Miss Joan Walmsley. Keine Frage, dass Englisch zu meinem Lieblingsfach wurde. Zumindest in den ersten beiden Jahren habe ich Englisch geliebt. Später mutierte das einstige Lieblingsfach zum Krampf. Miss Walmsley musste die Schule verlassen, warum auch immer.
1968 war das Jahr, als alles anfing: Damals kamen sie scharenweise von der Uni in die Schulen, die Student:innen. Mit ihren Plakaten, mit ihren Flugblättern, mit Mikrophonen und Lautsprechern. Habe damals wirklich nicht kapiert, um was es ging. Wir hatten Respekt vor den Großen. Sie wollten, dass wir uns ihren Protesten anschließen. Manche haben es gemacht, auch wenn ich bezweifle, ob sie wussten, um was es da ging. Man hat uns natürlich auch vor den Revoluzzern gewarnt. Sie ließen sich nicht entmutigen und kamen immer wieder von der Uni. Mit ihren Plakaten, mit ihren Flugblättern, mit Mikrophonen und Lautsprechern. Die Student:innen forderten den Austritt aus dem Religionsunterricht. Ganze Klassen traten aus. Ich war inzwischen in der Oberstufe und bildete mir meine eigene Meinung. Die Schule reagierte und bot interkonfessionellen Religionsunterricht an. Ich ging bei einem sehr netten katholischen Religionslehrer in den Unterricht. Wir hielten Referate, arbeiteten im Team, er lud uns zu sich nach Hause ein, tranken Tee und quatschten. Er verstand es, uns zu motivieren. Heute würde ich mich als Spätachtundsechziger bezeichnen. Ich liebe die Musik von Woodstock. Flowerpower ist meine Welt. Joan Baez und Jimi Hendrix wurden meine Idole, Martin Luther King und Melanie Safka, Love and Peace. Dann habe ich Theologie studiert. Es war anfangs eine harte Kost, schwere sprachliche Hürden galt es zu überwinden: Hebräisch und Griechisch. Später folgte die große Freiheit in der Aneignung dessen, was dem Leben dient. Theologie ist Lebenswissenschaft. Ich habe etwas gebraucht, um das so zu sehen. Heute stellt es sich für mich ganz eindeutig dar: ein gewisses revolutionäres Potenzial lässt sich der Theologie und der persönlichen Aneignung derselben nicht absprechen. Die Theologie hat Spuren in mir hinterlassen. Wie das Jahr 1968 mit seinen geschichtsträchtigen Geschehnisse nebst der Erinnerungskraft, die sich mir mit meinem alten Geschirrhandtuch verbindet.
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