Der ökumenische Pfingstgottesdienst der Brüsseler deutschsprachigen Gemeinden fand in diesem Jahr in der Evangelischen Emmausgemeinde statt. Pfarrer Wolfgang Severin und ich bereiteten den Gottesdienst unter dem Thema "Gemeinschaft" vor. Wir hatten Wollfäden vorbereitet, mit denen sich die versammelte Gemeinde "vernetzen" konnte. Der von über 120 Menschen besuchte Gottesdienst wurde begleitet von wunderbarer Musik mit Orgel und Gesang (Mendelssohn, Telemann) und fand seine Fortsetzung in lockeren, lang anhaltenden Gesprächen und Vertiefungen beim anschließenden Kirchencafé.
Das Manuskript meiner Predigt (es gilt dss gesprochene Wort):
Liebe ökumenische Pfingstgemeinde,
an Weihnachten haben wir die Lichter, den Christbaum, die Engel, an Ostern das Kreuz, das Osterfeuer und die Ostereier, beim Erntedankfest die geschmückten Altäre. Bei all diesen Festen gibt etwas zu sehen, zu greifen, zu dekorieren. Sichtbares, Fühlbares gehört dazu, wenn wir feiern. Und was haben wir eigentlich an Pfingsten? Ich finde, die Frage ist falsch gestellt: Was haben wir von Pfingsten? Denn Pfingsten ist kein Fest zum Anfassen. Es gibt nichts, um das man seine Sehnsüchte materiell gruppieren könnte. Gerade sie, die Tauben, urpfingstliche Symbole, lassen sich nicht gerne dingfest machen. Das Pfingstfest ist nicht greifbar. Nicht umlagert von Deko. Aber mit seiner minimalistischen Symbolik bringt es eine Leichtigkeit ins Leben. Ein unbeschwertes Fest.
Ursprünglich war Pfingsten ein jüdisches Fest zur Weizenernte. Man brachte die Erntegaben dar und dankte Gott für die Ernte. So wie bei uns am Erntedankfest. Man feierte es 50 Tage nach dem Pessah-Fest. Der Evangelist Lukas beschreibt, dass an Pfingsten die Apostel vom heiligen Geist inspiriert wurden und sie die Fähigkeit erhielten, Menschen mit unterschiedlicher Muttersprache von den Taten Gottes zu berichten. Petrus begeisterte die Zuhörer mit der Botschaft Jesu so sehr, dass sich 3000 Menschen taufen ließen. Somit gründete sich an Pfingsten die erste christliche Gemeinschaft, der Tag wurde zum Geburtstag der Kirche.
Jenseits allem Schwebenden und Ungreifbarem stützt sich unser Fest auf eine große, dynamische Erzählung. Die Nachricht von der Auferstehung galt noch als unerhört. Die Weggefährten Jesu lagen ratlos am Boden. Beschwert von den Ereignissen der letzten Wochen. So kamen sie zusammen in ihrer sprachlosen und verlorenen Stimmung. Wie soll es weitergehen?
Und da geschah es. Als sie so beisammensaßen und erzählten, spürten sie, wie ein neuer Geist in ihnen wach wurde. Was Jesus ihnen erzählt hatte von der Gemeinschaft untereinander, alle war plötzlich wieder da. Es ist eine Geschichte, die von der überraschenden Erfahrung handelt, Sprachen zu verstehen, die eigentlich fremd sind. Sie wurden alle erfüllt von dem heiligen Geist. Erfüllt – ein schönes Wort. Da schwingt Leichtigkeit mit.
Die verstörten Hinterbliebenen wurden mit neuer Kraft beseelt. Aufgefrischt aus der Depression. Berufen zu neuen Aufgaben. Unbeschwertheit ergreift Besitz von ihnen. Geistesgegenwart kann sich wie ein leichter Windhauch anfühlen, der für einen Augenblick mein Herz berührt und verändert - oder wie ein Phänomen, das mich schlicht umhaut. Das kann eine Erkenntnis sein, die ich bislang noch nicht zulassen konnte und doch plötzlich da ist. Pfingsten ist wie ein neuer, frischer Sprachkurs für den in die Jahre gekommenen Glauben.
Wir wissen, dass unsere menschlichen Sensorien für Wahrnehmungen innerer Vorgänge verschieden sind. Manches rührt uns an, was den anderen kalt lässt. „Die unmittelbare Gegenwart des ganzen ungeteilten Daseins“, so hat ein von mir sehr geschätzter Theologieprofessor Geistesgegenwart höchst intellektuell beschrieben. Man kann es aber auch so sagen: ich bin berührt. Ich bin erfüllt von einer tiefen Gewissheit. Ich erfahre Sinn und bin einig mit dem Leben. Motiviert. Leicht und offen für den Geist Gottes, unverfügbar aber wo er wahrgenommen wird: lösungsorientiert, verbindlich, heilend.
An Pfingsten feiern wir ein Geheimnis. Geheimnisse lassen sich nicht festhalten wie einen Gegenstand, den man in Besitz nimmt. Geheimnisse sind unverfügbar. Und das ist gut so, denn ansonsten würden wir uns mit unserem unerschütterlichen Besitzdrang auch der letzten Wahrheiten bemächtigen. Wir würden sie an uns reißen und nicht wieder hergeben, geschweige denn teilen. Wenn wir mit dem Geist Gottes rechnen, können wir die Haltung, sich im alleinigen Besitz der Wahrheit zu fühlen, getrost ablegen. Wir brauchen dringend Geist. Widergeist macht sich breit. Pfingsten setzt dem Widergeist Grenzen.
Pfingsten ist das Fest für den Geist, der weht, wo er will. Es geht um die ruach (wie es hebräisch heißt), gemeint ist der Geist, der vor unser aller Zeit am Schöpfungsmorgen über den Wassern schwebte, wie es im Schöpfungsbericht heißt. Pfingsten ist das Fest der Schöpfung, der Kreativität, der Begeisterung, der Inspiration, der Gemeinschaft.
Pfarrer Severin und ich haben diesen gemeinsamen Gottesdienst am heutigen Pfingstfest thematisch unter das Thema „Gemeinschaft“ gestellt. Gemeinschaft ist eine Frucht der Geistesgegenwart. Von frischem Geist beseelte Menschen tun etwas für das Gelingen der Gemeinschaft. Sie ziehen sich nicht zurück. Sie treten mutig zu Tage. Und sie treten dem Widergeist in die Quere.
Gemeinschaft. Ein Sehnsuchtswort, ein Allerweltswort, manchmal sehr romantisierend gebraucht. Als Ziel von gelingendem Zusammenleben ist es weithin unumstritten. Es gibt auch Ausnahmen. Gemeinschaften, die sich abschottet. Gemeinschaften, die die Würde aller Menschen bestreitet. Gemeinschaften, die sich rechthaberisch in den Schmollwinkel zurückziehen. Trotz aller Bemühungen gibt es oft keine gemeinschaftlichen Lösungen. Gemeinschaft ist ein hehres Ziel. Aber wie kann sie gelingen? Auch unsere Kirchen sind weit davon entfernt, das große Wort Gemeinschaft auf alle ihre Bereiche anzuwenden. Ich denke nur an die fehlende eucharistische Gemeinschaft. Darunter leiden viele Christen, evangelisch und katholisch.
Aber lassen wir uns nicht herunterziehen von negativen Erfahrungen der Vergangenheit. Das tut unserer Seele nicht gut. Lasst uns auf unsere gemeinsamen Ressourcen fokussieren, lasst uns stärken, was vorhanden ist, feiern, was wir haben und nach vorne schauen. Hier in unseren Gemeinden St. Paulus und Emmaus können wir das getrost tun. Wie viele Gruppen, Kreise und Chöre sind hier selbstverständlich ökumenisch. Ich kenne wenige Gemeinden, in denen so selbstverständlich ökumenisch geplant wird. Das ist ein riesiges Potential. Es ist sehr bereichernd, wie der Geist Gottes hier lebensdienlich und verbindend wirkt. Lasst uns diesen pfingstlichen Weg weitergehen. Und lasst uns gegenseitig in diesem Weg vergewissern.
Für mich beginnt dieser Weg mit einer Zentralerfahrung der Befreiung des Volkes Israel aus der Knechtschaft der Ägypter: Bei den zehn Geboten. Hier bekommen wir Einblick in die Werkstatt von Gottes Geist.
Warum Zehn Gebote? Weil sie einen Grund für gutes Zusammenleben legen. Zu Beginn der Wanderschaft durch die Wüste hat Gott einen Bund mit den aus ägyptischer Knechtschaft befreiten Israeliten geschlossen. Gott gibt ihnen zwei Tafeln mit den zehn Worten. Das Ewig-Kurzgefasste, nannte sie Thomas Mann. An zehn Fingern abzählbar. Immer dabei. Diese beiden Tafeln waren eine Art Navigationssystem durch die Wüste und ermöglichten das Überleben in der Freiheit. Es wäre nicht möglich gewesen, in der Wüste überhaupt zu überleben ohne Regeln für die Gemeinschaft. Regeln begründen das Überleben. Wenn jeder und jede in der Wüste nach dem Lustprinzip agiert hätte, wäre es schnell aus gewesen mit der Gemeinschaft. Ich halte die Zehn Gebote für ein von Gottes Geist inspiriertes Werk.
Die Zehn Gebote ist eines der ältesten Dokumente fixierter Moral, eine Geschichte der Freiheit. Die Zehn Gebote sind eingebettet in eine immer und immer wieder erzählbare und erinnerbare Befreiungsgeschichte. Geisteskraft bildet für Generationen. Aber wie kommt Bildung ins konkrete Tun?
Hilfreich ist es, Tag und Nacht über der Tora zu sinnen und beim Durchgang durch die abenteuerliche Geschichte, die sie erzählt, die Worte lieb zu gewinnen, die Gott zu Mose sprach. Wohl dem, der … Lust hat am Gesetz des HERRN und sinnt über seinem Gesetz Tag und Nacht! Das Sinnen über dem Gesetz, über der Tora, über der ganzen Bibel stellt eine Beziehung her. Dadurch werden die Werte in uns einpflanzt, die wir für unverzichtbar halten. Abstrakte Werte werden gegenwärtig erlebbar und erfahrbar. So ist also das Sinnen über dem Gesetz die beste Bildung für das Leben. Und weil sie immer neue Themen wie Magneten anziehen, wird diese Befreiungsgeschichte auch nie langweilig. Sie bleibt als Urerfahrung eine Befreiungsgeschichte durch alle menschlichen Prozesse hindurch. Sie bleibt immer aktuell. Und wenn wir uns auf sie einlassen können, wird sie auch zu unserer eigenen und persönlichen Befreiungsgeschichte.
Wir brauchen dringend Geist. Für alle Lebensbereiche. Für persönliche Entscheidungen. Für gesellschaftliche Diskurse. Ich habe mich schon immer gefragt: was muss eigentlich geschehen, dass geistgeprägte Gemeinschaft als gegenwärtige und nachhaltige Kraft erlebt werden kann. Nicht jede Gemeinschaft gelingt. Auch in der Bibel werden die Realitäten nicht ausgeblendet oder schöngefärbt. Die Bibel kann als eine Sammlung von Überlebensgeschichten und das heißt auch Konfliktlösegeschichten verstanden werden. Diese Geschichten erzählen, wie Menschen in bestimmten Situationen Kraft bekommen haben. Diese Kraft konnten sie als Gottes Beistand erfahren. Und indem die Geschichten immer und immer wieder nacherzählt werden bzw. ihre Lösungsmöglichkeiten aufgezeigt werden, können sie ihre Kraft bis in die Gegenwart, bis ins persönliche Erleben hinein entfalten. In den 10 Geboten wird in wenigen Worten diese Erfahrung verdichtet: „auf dass du lange lebest, in dem Land, das dir der Herr dein Gott geben wird“.
Die biblischen Gebote können keine exekutive Macht ausüben, sie bedürfen der freiwilligen Annahme durch die Menschen. Damit bilden sie die Basis für ein Gemeinwesen, das auf dem Prinzip der Freiheit beruht. In ihrer fast dreitausendjährigen Überlieferungsgeschichte und trotz der unzähligen Male, in denen sie gebrochen wurden, haben die Zehn Gebote bis in die heutigen Gesellschaften hinein ihren Einfluss behalten. Sie bestehen noch immer, „in ihrer scheinbaren Ohnmacht, als Bollwerk der Menschlichkeit gegen ihre Zerstörer, als Anklage und Waffe der Machtlosen gegen die Tyrannen, als Instrument der Selbsterkenntnis für alle, die glauben, alles besser zu wissen und richtig zu machen“, schreibt kürzlich verstorbene Notker Wolf in seinem Buch „Regeln zum Leben“.
Die Zehn Gebote, als das Ewig – Kurzgefasste hat ihren ursprünglichen Sitz im Leben weitgehend verlassen und ist in die Moralkodexe der westlichen Demokratie und ihre Verfassungen eingewandert. Auch in unser Grundgesetz, dessen 75-jähriges Bestehen wir in diesen Tagen feiern. Ich denke nur an den ikonenhaften Satz: Die Würde des Menschen ist unantastbar.
In der Tat hat die Bedeutung des Ewig-Kurzgefassten die Zeit überdauert: Es bildet Regeln jenseits aller Ideologien, gibt innere Orientierung, ist anti-diktatorisch, anti-egoistisch. Auch und gerade deswegen sind die Zehn Gebote ein Wegweiser, der alle christlichen Konfessionen und sogar die Weltreligionen verbindet. Als Grundlage für ein Gespräch mit dem Islam finden sich im Koran deutliche Parallelen zu den jüdisch-christlichen Sozialgeboten. So entsteht ein kleinster gemeinsamer Nenner für ein Leben in Achtung vor Gott, in Menschlichkeit und unbedingtem Respekt vor dem Andern. Vielleicht ist das Verständnis in verschiedenen Sprachen bereits ein Hinweis auf das Bemühen um Dialog über alle Grenzen hinweg.
Was schließlich für die Gegenwart feststeht, ist die Verankerung der Zehn Gebote in den Menschenrechten. Die weltweite Verbreitung, die der Dekalog bis hierher erfahren hat, machte ihn in seiner faszinierenden Erfolgsgeschichte zu einem Maßstab für richtiges und falsches Verhalten über Jahrtausende.
Im Neuen Testament werden die Zehn Gebote nicht benannt, jedoch als selbstverständlich vorausgesetzt. Sie gipfeln im Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe. Wir werden diese Zusammenfassung der 10 Gebote im ökumenischen Kinderbibeltag in den Blick nehmen.
Wir brauchen dringend Geist. Wir können darum bitten, dass Gott uns die nötige Geisteskraft schenkt, für die Aufgaben, die wir vor uns haben. Wir können darum bitten, dass Gott uns geistgewirkte Überzeugungskraft für die gute Sache des Glaubens schenkt. Wir können Gott darum bitten, dass wir den Geist der Knechtschaft und Pseudogemeinschaft von dem Geist der Freiheit unterscheiden lernen. Der Herr ist Geist; wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit, so sagt es Paulus in 2.Korinther 3,17. Eine Freiheit, die sich auch durch noch so dichte Netze nicht einfangen lässt.
Dieser Geist der Zuversicht und der Hoffnung nimmt es auch mit dem Unmut und dem Frust auf, der in unserer Gesellschaft krisenhaft kursiert. Und sich nicht vom Widergeist beeindrucken lassen, der die Würde auszuhöhlen versucht und die Menschheit in Menschen erster und zweiter Klasse aufteilt. Warten, bis der Spuk zu Ende ist, ist zu wenig. Diese Freiheit gilt es umzusetzen in persönlichen und gemeinschaftlichen Prozessen. Die Perspektiven, die der Geist Gottes in unserer Seele freilegt, sind so vielfältig, dass sie sich weder fangen, vereinnahmen noch bändigen lassen. Die Seele wird vom Geist Gottes hilfreich begleitet.
Wir pflegen den Geist der Zuversicht und der Hoffnung, wenn wir Netzwerke der Verständigung knüpfen. Dann finden Verschiedene zusammen und machen einander Mut. Sie vergewissern sich gegenseitig in der Gewissheit, dass Gottes Geist unserer Schwachheit aufhilft (Röm. 8) und uns mit unaussprechlichem Seufzen vertritt, wenn uns die Worte fehlen.
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