Passion im jüdisch-christlichen Kontext
- hds
- 10. Apr.
- 4 Min. Lesezeit
Theologische Anmerkungen zu
Johannes Georg Kühnhausen (1640-1714)
Passion nach dem Evangelisten Matthäus
Für Solostimmen, Chor und Generalbaß

Flügelaltar aus dem 15. Jahrhundert in der Evangelischen Kirche Koserow/Usedom. Geschaffen von einem Stralsunder Meister. Foto: Hans-Dieter Schäfer
Die Kantorei der Evangelischen Stadtkirche Ravensburg unter der Leitung von Kantorin Carmen Jauch bringt am Karfreitag 18.04.2025 im Gottesdienst (10 Uhr) und zur Sterbestunde Jesu (15 Uhr) Teile des Werkes des weithin unbekannten Barockkomponisten Johann Georg Kühnhausen (1640-1714) zur Aufführung.
Die Passio Christi secundum Matthaeum ist um 1700 entstanden und gilt als sein einziges erhaltenes Werk. Im Stil des Barocks (Kühnhausen ist ein Zeitgenosse von Johann Sebastian Bach) bringt er eine eigene Interpretation in die Passion ein. Durch geringe Instrumentierung und den Verzicht auf die Beisetzung Jesu hebt er sich von vergleichbaren Werken der Barockzeit ab.
Als Hörende und Singende sollten wir uns einige theologische und historische Umstände bewusst machen. Die mit den Passionstexten transportierten Aussagen und Zumutungen siedeln sich durch musikalische Verstärkung in unterbewussten Schichten des menschlichen Empfindens an. Beim Hören oder Singen mancher Passagen aus den barocken Passions-Kompositionen beschleicht einen heute ein gewisses Unbehagen. Manch einem bleiben die Worte oder Töne im Hals stecken. So war die Karwoche oft eine Woche des Schreckens für die jüdische Bevölkerung. An bestimmten Orten etwa in Polen oder im zaristischen Russland hetzten die Geistlichen sogar bis in das 20. Jahrhundert hinein mit ihrer Verkündigung die christliche Gemeinde auf, die dann über ihre jüdischen Nachbarn herfiel. Denn für sie bewiesen die Evangelien, dass „die Juden“ angeblich Jesus ermordet hätten und über alle Zeiten hinweg schuldig seien. Aller Beharrlichkeit zum Trotz steht historisch fest: Die Kreuzigung war eine römische Strafe, keine jüdische, und ihr Vollzug allein den Römern vorbehalten.
„O Juda, o Juda, o Juda, verrätest du des Menschen Sohn mit einem Kuss?“ (Lk.22,48 - Erster Teil Takt 430ff)
In der Judasfigur sind wie in keiner anderen Persönlichkeit im Passionsgeschehen die antisemitischen Negativstereotypisierungen versammelt. In Judas (bei Kühnhausen: Juda!) kann man erkennen, wie Antisemitismus funktioniert und welche Funktion er für das eigene (christliche) Selbstbild erfüllt. Judas wurde im Laufe der Tradition zum hartnäckigen Repräsentanten »des Juden«. Trotzdem müssen wir vor Augen führen, dass gerade Judas eine heilsgeschichtliche Bedeutung zukommt. Ihm vergibt Jesus. Judas wird so vom heilsgeschichtlich unsinnigen Vorwurf des Verräters und Helfershelfers des Gottesmordes entlastet.
„Sein Blut [komme] über uns und über unsere Kinder!“ (Mt. 27,25 – Zweiter Teil Takt 213ff)
So drängt das ganze Volk angeblich Pilatus. Ähnlich sind es auch im Johannesevangelium immer wieder pauschal „die Juden“, die Jesus nach dem Leben trachten: „Wir haben ein Gesetz, und nach dem Gesetz muss er sterben!“ (Joh. 19,7). Amy-Jill Levine, jüdische Bibelwissenschaftlerin und im christlich-jüdischen Dialog engagiert, schreibt dazu: „Viele Pastoren oder Priester haben überhaupt keine Ausbildung darin, wie sie mit diesen Stellen umgehen sollen. Übrigens haben wir Juden im Tanach, der Hebräischen Bibel, auch ein paar problematische Stellen. Wir müssen grundsätzlich alle aufpassen bei Texten, die zu Bigotterie oder Fanatismus führen können. Wer in einen christlichen Gottesdienst geht und dort solche Textstellen hört, hat verschiedene Wege, damit umzugehen. Manchmal werden einem in der Kirche kleine Zettel in die Hand gedrückt, um für Kranke zu beten. Man kann einfach darauf schreiben, dass dieser oder jener Text für antisemitische Zwecke missbraucht wurde und man ihn ablehnt. Ein Pastor kann eine Stelle wie die im Matthäus-Evangelium auch so betonen, dass klar wird, dass sie Schmerz bedeutet und er sich davon distanziert. … Es gibt viele verschiedene Möglichkeiten. Klar ist aber: Es muss etwas getan werden.“
Aspekte zum „jüdischen Gesetz“
Die Polemik gegen das „jüdische Gesetz“ hat im Christentum eine lange Tradition. Dabei hat das im Neuen Testament sog. „Gesetz“ im Judentum unendlich viele Facetten. Dass es zum Tode führt, dürfte zumindest dem Beter des 1. Psalms nicht in den Sinn gekommen sein: „Wohl dem, der nicht wandelt im Rat der Gottlosen / noch tritt auf den Weg der Sünder, noch sitzt, wo die Spötter sitzen, sondern hat Lust am Gesetz des HERRN und sinnt über seinem Gesetz Tag und Nacht!“ Diesem Psalm, den wir auch im christlichen Gottesdienst beten und vielen anderen biblischen Texten zufolge ist „das Gesetz“ eine Hilfestellung für einen anständigen Lebenswandel und damit der Inbegriff eines gottesfürchtigen Lebens. Die jüdische Gesetzespraxis mit „tödlich“ gleich zu setzen, ist absurd und gefährlich.
Evangelientexte und freie Stücke
Viele Sätze oder Rufe, die im Verdacht stehen, Feindschaft gegenüber Juden zu transportieren, sind wörtliche Zitate aus dem Neuen Testament. Die freien Stücke hingegen – Choräle und Arien lassen - auch mit ihrer barocken Sprache, die heute schwer verständlich erscheint - ganz andere Töne hören: Sie beziehen die Gläubigen in das Geschehen ein, lassen den Einzelnen seine Verstrickung ins Böse erkennen und klagen niemand anderen an. Bei Kühnhausen bezieht der Choral „Jesus, meines Lebens Leben“ (Erster Teil Takt 491ff) die Zuhörenden in das, was ihnen vorgetragen wird, ein. Die singende Antwort ist der Dank: Tausend- tausendmal sei dir, liebster Jesus Dank dafür“ (Erster Teil Takt 499ff).
Der Oberammergauer Weg
Eine grundlegende und dem moderne Forschungsstand angemessene Textreform veränderte die Sicht auf die Rolle der Juden und Jüdinnen grundlegend. Das Passionsspiel wird zum innerjüdischen Konflikt, Fürsprecher und Widersacher finden sich in allen Gruppen, im Hohen Rat, im einfachen Volk und im Kreis der Getreuen. Jesus wird nicht mehr auf sein Leid beschränkt, sondern zum Kämpfer für seinen jüdischen Glauben. „Mir geht es darum, Jesus runter auf den Boden zu holen und verstehbar zu machen“, sagt Christian Stückl, Regisseur der Oberammergauer Passionsspiele. Es gehe darum, nicht länger auf Klischees und Vorurteile zu setzen, sondern eine im Grunde allzu menschliche Geschichte zu ergründen.
Aufklärung und Reflexion
Das empfundene Dilemma, die Gefühle des Unbehagens, können nur durch Information, Aufklärung und Reflexion über die Hintergründe vor allem des neutestamentlichen Textes und seiner musikalischen Verdichtung aufgefangen werden. Über das Problem einfach hinwegzugehen, ist heute kein gangbarer Weg mehr.

Greifswalder Dom. Fenster in der Apsis gestaltet von Olafur Elisson. Foto: Hans-Dieter Schäfer
Quellen
Neuausrichtung der Oberammergauer Passionsspíele 2022. Dem Regisseur Christian Stückl gelang es, unter Einbeziehung jüdischer ExpertInnen, die Passionsspiele von antijüdischen Stereotypen zu befreien: https://www.passionsspiele-oberammergau.de
Hanna Lehming: Antijudaismus in J.S. Bachs Matthäus- und Johannespassion?, in: Sich besser verstehen. Christsein im Angesicht des Judentums. Impulse für Gottesdienst, Gemeindearbeit und Konfirmandenunterricht, Hannover 2016, 153ff., online unter http://www.arbeitshilfe-christen juden.de/themen/gemeindearbeit/antijudaismus_bach. (Hanna Lehming war Beauftragte der Nordkirche für das Gespräch mit dem Judentum)
Projekt Antisemitismuskritische Bibelauslegungen der Evangelischen Akademie zu Berlin: https://www.eaberlin.de/themen/projekte/bildstoerungen/antisemitismuskritische-bibelauslegungen/
Interview mit Amy-Jill Levine in der Jüdischen Allgemeinen Zeitung vom 15.10.2023 in: https://www.juedische-allgemeine.de/religion/wir-muessen-die-quellen-kennen/
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