De Panne – westlichster belgischer Ort, südlichster Punkt an der belgischen Küste, Badeort und Ziel meines zweitägigen Trips am Wochenende. Was macht der Soloreisende in De Panne am regnerischen, kalten und windigen Wochenende? Ich habe mir vorgenommen, es nicht den tausenden in dicken Regenjacken eingehüllten Touristinnen und Touristen gleichzutun, denen man ihren Missmut bereits von der Ferne ansieht. Wenn es keinen anderen Grund als den Hund gibt, das Hotel zu verlassen, dann muss man sich schon etwas einfallen lassen, seine Zeit gut zu nutzen. Ich versuche, mich zu motivieren. Und siehe da, es geht. Ich trage ja eine wasserdichte Regenjacke am Leib. Sieben Schübe kamen zusammen, von denen ich erzählen möchte.
Mein ersten Motivationsschub ist die Küstenbahn für die Anreise. Die längste Trambahn Europas. Sie pendelt unentwegt an der Küste von Nord nach Süd und zurück: 68 km sind es von Knokke hoch im Norden bis eben De Panne am südlichsten Zipfel. Eine Stunde und 20 Minuten hinauf. Eine Stunde und 20 Minuten hinunter. 2,50 € kostet der hoffnungslos überfüllte Spaß und Sightseeing mit Küstenblick ist garantiert, wenn man sich einen Sitzplatz ergattert hat.
Zweite Motivation ist meine Unterkunft. Nichts Luxuriöses, aber sehr angenehm im Art-Deco-Stil gehalten, Erdgeschoss, Blick in den Garten, mit Kaffeemaschinchen und vier Kapseln. Das reicht.
Drittes Motivationselement: der Ort selbst. Die Hotelzeilen entlang der Küste – geschenkt. Aber es gibt ja auch die zweite, die dritte Reihe. Ich erkunde das Dumont-Viertel, bestehend aus Villen vom Anfang des 20.Jahrhunderts, individuell im Cottagestil – eine total ruhige Zone – ein Entspannungsparadies. Schnell noch auf dem Markt Käse mit Pfannenkuchen für das schnelle Mittagessen eingekauft, das ich auf der Parkbank einnehme, dann Einchecken. Gegen Abend wird es lichter. Ich mache mich auf den Weg in den Süden. Die französische Grenze ist mein Ziel. Sie lockt im Horizont – der Hafen von Dunkerque in der Ferne sichtbar. Auf dem Weg entlang der Küste fällt mir ein Bauwerk auf, das man besteigen kann, Teil eines Kunstprojektes mit Namen „Westpoint“: Eine geometrische, flache Treppe, die von der Betonpromenade aus in die Höhe führt, den Strand überragt, bevor dann der Weg weitergeht, hinunter zum unteren Strand. Sie verbindet symbolisch das Meer mit den Dünen, die Natur mit der Küste und die Bewohner untereinander (weitere Informationen unter www.depanne.be).
Das im Mai 2024 errichtete Bauwerk sei von Konfuzius und seinem Dictum „Der Weg ist das Ziel“ inspiriert, heißt es in der Erklärung.
Das vierte Element meiner Motivation: mit Konfuzius weitergehen bis an die Grenze zu Frankreich, im Blick auf der einen Seite das Meer, auf der anderen die Dünen (ein Drittel aller Dünen an der belgischen Küste finden sich im Dünenreservat Westhoek zwischen De Panne und der französischen Grenze). Das Wetter beruhigt sich. Und in Frankreich angekommen schlüpft die Sonne aus den Wolken! Ich trinke ein Bier im Freien auf dem Grenzcampingplatz und genieße mit einer ausgedehnten Pause meine freie Zeit.
Fünfte Motivation: Die geschützte Dünenlandschaft. Ein wunderschönes Naturreservat mit gut ausgebauten Wanderwegen und typischer Dünenvegetation wartet auf mich.
Nach 4 Stunden ausgedehnter Wanderung in der Grenzregion kehre ich wieder wieder zurück zum Ausgangspunkt, rechtzeitig vor dem einsetzenden Dauerregen. Dort sollte noch ein sehr beeindruckendes Erlebnis auf mich warten: eine Robbe, der sich vor einem Strandhäuschen tummelt und die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Tierfreunde haben für den kleinen Kerl einen Schutzbereich ausgelegt. Und siehe da, die zahlreichen Fotografen, die sich eingefunden haben, respektieren das! Der Respekt vor der Intimsphäre des Tieres sollte selbstverständlich sein. Leider ist Respekt nicht selbstverständlich.
Diese Beobachtung beeindruckt und motiviert mich sechstens, vermehrt danach zu schauen, wo Respekt geschieht, anstatt mich über Respektlosigkeit aufzuregen. Der kleine Kerl scheint die Aufmerksamkeit zu genießen. Irgendwie meine ich ein Lächeln in seinem Gesicht zu erkennen, aber vielleicht ist es auch ein angeborenes Lächeln. Im Hotel angekommen wartet das Fernsehprogramm noch mit einer EM-Übertragung. Müde sinke ich ins Bett.
Am Morgen stehe ich wie gewohnt sehr früh auf. Ich habe meine vorbereitenden Materialien für meine Predigt am nächsten Sonntag dabei. Draußen regnet es wieder, ich verpasse also nichts, verzichte auf das Hotelfrühstück, werfe meine private Kaffeemaschine an, und arbeite mich durch den Text: 1.Samuel 24,1-20 (David verschont Saul in der Höhle En-Gedi). Selten hat mir eine Exegese so viel Freude gemacht. Vielleicht ist es auch der Tapetenwechsel, das anregende Meer, die freundliche Unterkunft. Drei Stunden lang sitze ich hochmotiviert am Text und freue mich, dass ich aus den Materialien und meiner Reflexion darüber wichtige Erkenntnisse für die Predigt ziehen kann. Das ist meine siebte Motivation: Freude an der neuen (theologischen) Erkenntnis.
Kurz vor 11 Uhr checke ich aus, setze mich wieder in die Küstentram, die mich zurück nach Ostende bringt. Unterwegs mache ich noch einen Stopp in der Dünenkirche mit dem Grab von James Ensor (1860 – 1949), dem Baron und Maler, dessen 75. Todestag ganz Belgien mit Sonderausstellungen feiert. In der Stadt schlendere ich durch die Fußgängerzone. Es ist Sonntag, die Läden sind offen. Touristen mit vollbepackten Taschen allenthalben. Ich gönne jedem und jeder das Einkaufserlebnis. Ich brauche es nicht. Zumal nicht am Sonntag. Mein Zug wartet schon, der mich wieder zurück nach Brüssel bringt. Ich lasse meine Kurzauszeit noch einmal revuepassieren. Sieben Motivationen mit neuen Erkenntnissen – es tut hin und wieder gut, alte Spuren zu verlassen und sich in Neuland zu begeben. Das gibt der Freude und der Motivation Raum. So war für mich der Kurztrip an die Küste bereichernd und rundet mein dreimonatiges Brüsselerlebnis irgendwie ab.
In meinem Blog versuche ich, meinen geneigten Leserinnen und Lesern etwas mitzugeben: alle sieben selbst ausprobierten Motivationselemente sind als Anregung für je eigene Motivationstransfers gedacht. Hier einige Vorschläge zum Adaptieren.
Erste Motivation: Küstenbahn - warum nicht öfters auf Öffis umsteigen? Das entspannt und schont die Umwelt, Außerdem kann man in Belgien Menschen mit ihren Hunden beobachten, die gleichen sich mit der Zeit im Aussehen an – Hunde dürfen nämlich in Belgien kostenlos mitfahren. Sehr löblich. Ich muss bei diesen Anblicken immer wieder schmunzeln, denn der Eindruck, dass sich Hundehalter ihren Schützlingen im Laufe der Jahre im Aussehen angleichen, wird immer öfters bestätigt.
Zweite Motivation: Unterkunft – warum nicht eine Nacht woanders verbringen? Das erweitert den Horizont, es ist außerdem ein sehr feines Gefühl, als Gast behandelt zu werden. Die Erlebnisintensität ist meines Erachtens wichtiger als alles Luxuriöse.
Dritte Motivation: Stadt – warum nicht eine Stadt neu entdecken? Nicht die Hotspots ansteuern, die auf Hochglanzbroschüren sondern die „zweite und dritte Reihe“: die Märkte, die verschlafenen Viertel, die Parks …
Vierte Motivation: Konfuzius – warum sich nicht Ziele setzen, die in Erfahrungen am Weg einmünden? Die Zielorientierung ist zwar wichtig, aber es sollte genügend Raum für Erfahrungen am Weg "eingeräumt" werden.
Fünfte Motivation: Dünenlandschaft – warum nicht bewusst Naturschutzgebiete und Ruhezonen aufsuchen? Dort finden wir die Entspannung, die uns im Alltag oft fehlt.
Sechste Motivation: Respekt – warum sich nicht vermehrt auf Beispiele des respektvollen Umgangs mit der Schöpfung fokussieren, anstatt sich über permanente Grenzüberschreitungen die Zornesröte ins Gesicht treiben zu lassen? Die Aufregung über die permanenten Grenzüberschreitungen in unserer Gesellschaft machen nur missmutig, zynisch und verbittert. Wenn wir etwas konstruktiv dagegensetzen, verändern wir die Welt in uns und für andere.
Siebte Motivation: Erkenntnis – warum nicht ein Alternativprojekt bei misslichen Wetterverhältnissen verfolgen? Klar, man kann auch die ganze Zeit über das Wetter klagen. Aber was bringt´s ? Ich kann es eh nicht ändern. Mir macht die exegetische Erkenntnis in der Theologie Spaß. Da kann ich richtig aufgehen. Andere nehmen sich vielleicht vor, endlich mal Immanuel Kant zu verstehen oder Kafka, oder den köstlichen und selbstironischen Vincent Klink lesen, z.B. „Ein Bauch spaziert durch Paris“, und und und …
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