Bei Gott schweigt meine Seele still
Psalm 62 im Kontext aktueller Überforderungsdiskurse
Zeitdiagnose
Wir leben in einer von Krisen geprägten Zeit. Das ist sicher nichts Außergewöhnliches. Jede Zeit hat ihre Krisen. Aber die Massivität der gegenwärtigen Krisen führt bei vielen Menschen das Gefühl der städingen Überforderung. Krankheit (Corona), Kriege (Ukraine und Nahost) geben vielen von uns das Gefühl, nicht mehr mithalten zu können. Dazu kommen die enormen Herausforderungen des Klimawandels, die uns manchmal sprachlos machen. Die zunehmende Digitalisierung löst die Räume und identitätsstiftenden Orte auf, an denen man sich leiblich aufhalten und verweilen kann. Ständige Beschleunigung von Verkehr und Kommunikation führen dazu, permament von dem schwerwiegenden defizitären Gefühl begleitet zu werden, von Problematik überschwemmt zu sein. Weltumspannende Gleichzeitigkeit der virtuellen Medien- und Datenräume führen Verlust des Raumes und Verdichtung der Zeit.
Leiden unter Zeitverdichtung
Überforderungssituationen führen auf Dauer zu Pathologien. die aus dem menschlichen Grundverhältnis zur Einstellung zu unserem Zeiterleben resultieren. Leiden unter Stress und Beschleunigung, Leiden unter der begrenzten Lebenszeit. Es gelingt uns nicht, mit zeitlich verdichteten Anforderungen Schritt halten. Dies führt zu einer Zeitentkopplung zwischen Eigenzeit und Weltzeit und damit zur menschlichen Entfremdung. Dazu kommt, dass die Menschheit durch zwei fundamental entgegengesetzte Zeitverständnisse geprägt ist. Da ist zum einen die zyklische Zeit. Sie ist durch Prozesse des Lebens und des Körpers charakterisiert und sich in der Natur spiegelt. Und kontrastierend dazu die beschleunigte Zeitdynamik der Moderne, eine lineare Zeitdynamik, die durch Wachstum und ständigem Fortschritt geprägt ist.
Psalm 62 auf dem Hintergrund moderner Zeitdiagnostik
Betrachten und lesen wir die Psalmen auf dem Hintergrund der Zeitdiagnose unter dem Aspekt der Überforderung, können wir Interessantes beobachten. Psalmen beschreiben überzeitliche Lösungsansätze gegen eine Überforderung, die uns subtil oder offensichtlich bedroht. Mit ihrer Verdichtung einer menschlichen Emotionen-Palette, von extremer Freude und Lebenslust bis äußerste Bitternis und Trauer machen uns die Betenden Angebote, auch unsere Empfindungen wahrzunehmen. Über die Jahrhunderte hinweg laden sie uns ein, auch zu unseren eigenen Emotionen zu stehen. Hilfe finden die Betenden im Tempel, der als leiblicher Raum der Gottesnähe, der Stille, wahrgenommen wird. Psalm 62, den wir exemplarisch herausgreifen, zieht uns gerade durch seine Schlichtheit in den Bann. Er spricht konkrete Weisheitsgedanken aus, er reagiert auf Situationen der Unterdrückung, der Verfolgung, der Unechtheit und Unehrlichkeit. Die Bewältigung geschieht durch Aussprache und Schweigen im Raum Gottes. Ein bedrohter und verfolgter Mensch - ob von außen oder von innen, das bleibe einmal dahingestellt - sucht das Heiligtum (Tempel) auf, weil er oder sie weiß, dass sich die getriebene Seele dort von ihren Stressmomenten erholen kann. Er oder sie muss nichts beweisen. Diese dort erfahrene Gottesnähe tut dem Beter gut. Es entsteht ein neuer Sinnzusammenhang, weil dort andere Werte zählen. (Vers 8). Worte wie Fels, Hilfe, Schutz sind starke Symbole gegen die Angst. Die Seele des Beters/der Beterin fühlt sich Gott nahe. Der betende Mensch weiß: „Auf Gott gründet sich meine Freiheit und Würde“ In dieser Aussage fasst er seine persönliche Erfahrung mit Versprachlichung und Stille aus ihm. Wir müssen eine eigene Antwort finden in den je individuellen Gemengelagen und Überforderungsempfindungen.
Neue Kultur der Leiblichkeit, des Selbst und der Sinne: zehn Erfahrungswerte
Meine eigenen Erfahrungswerte, auf dem Hintergrund der Psalmen und gestützt auf den Psychiater und Philosophen Thomas Fuchs (Heidelberg) und den Depressionstherapeuten Daniel Hell (Zürich), habe ich einmal versucht in zehn Punkten zusammenzufassen:
1. »Ich will meine Psyche trainieren, damit ich jeden Tag glücklich bin« – wäre das auch ein gutes Trainingsziel? Jeden Tag glücklich zu sein ist unrealistisch. Wir sind als Menschen nicht dafür gemacht, unser Fokus liegt auf dem Überleben (Dr. Jule Smith, Klinische Psychologin, GB)
2. Meine „inneren Übernahmen“ und Internalisierungen überdenken und überfühlen. Welche Anteile an meiner Selbstüberforderung steckt z.B. in meiner Erziehung?
3. Bei den Lebensweisheiten der „Vordigitalen“ zur Schule gehen und anknüpfen: Wiederentdeckungen alter Weisheiten und Philosophien und entsprechende Anpassungen vornehmen. Dazu gehören auch die Weisheiten der Psalmen.
4. Der Mensch in der Spätmoderne: ein unzufriedener Getriebener. Alles Lebendige will er noch optimieren, steigern, verbessern. Auf das Innere Erleben achten (sich nicht plätten lassen von allen möglichen Events, Sehenswürdigkeiten, und Orten, von denen man uns suggeriert (durch Werbung …), dass man dort unbedingt schon mal gewesen sein muss“. Hinter diesem hedonistischen Freizeitstress stecken oft Kompensationswünsche für innere Leere.
5. Kultur der Entschleunigung, der Leiblichkeit und der Sinne (nach Thomas Fuchs, Verkörperung und Beziehung, 2023)
Atem als ursprünglicher Austausch mit Umwelt bewusst wahrnehmen Sinnliche Erfahrung mit der Erde pflegen: Geschmack der Nahrung, Geruch der Blüten, Tages- und Jahreszeiten. Leibliche Präsenz einüben. Ankommen in der Gegenwart. Das wache Sein bei den Dingen. Achtsames Umgehen mit den Dingen. Berühren und Sich berühren lassen. Das Sein beim Anderen. Resonante Gegenwart des Anderen. Gemeinsames Schweigen/Kultur der Stille und der Entschleunigung (s. Psalm 62)
6. Annahme des „Selbst“ (Daniel Hell, Das Selbst in der Krise – Krise des Selbst) ist wichtiger als kognitive Aufwertung des Selbstwertgefühls.
„Es wäre in leidvollen Herausforderungen für einen Menschen hilfreich, das eigene seelische Erleben annehmen zu können und die Selbstinfragestellung durch ein normiertes und idealisiertes Bild von sich selbst möglich klein zu halten.“ (D.Hell, S.114)
7. Momente des Einvernehmens („now moments“) zwischen Menschen wahrnehmen und pflegen
8. Verabschiedung von Allmachts- und Größenphantasien
Selbstbejahung in der eigenen Begrenztheit (die eigene Verwundbarkeit annehmen) Demut (humilitas) ohne Minderwertigkeit
9. Einübung echter Empathie, in der die anderen nicht nur als Selbst-Objekte meiner eigenen Spiegelung dienen
10. Das Bewusstsein der Einbettung in einen übergreifenden Zusammenhang (s. Psalm 62) an die Stelle narzisstischer Omnipotenzideen treten lassen Elemente dieser Einbettung sind: Verbundenheit mit allem Lebendigen. Teilen der existenziellen Tatsachen mit Lebewesen. Die Welt des Lebendigen steht im Widerstreit zum modernen Projekt linearen Fortschritts und unaufhörlichen Wachstums: „Nur wenn wir unseren Leib wirklich bewohnen, werden wir auch die Erde als bewohnbar erhalten können“ (T.Fuchs)
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